Wie schon bei den letzten Ausgaben veröffentlichen wir an dieser Stelle den einen oder anderen Artikel aus dem vierteljährlich erscheinenden Magazin von ASS. Teil 1: Jan Koch. Der 24-Jährige leidet seit seiner Geburt am so genannten Marfan-Syndrom. Trotzdem hat er sich den Traum vom Kartfahren erfüllt.
Als Jan Koch in die zweite Klasse kam, war er bereits grösser als seine Lehrer. Im Alter von 14, 15 Jahren war er bereits 1,90 Meter gross – und keine 60 Kilogramm schwer. Der Schlacks aus Villmergen im Kanton Aargau galt als Sonderling. Seine Mitschüler haben ihn gehänselt. Rückblickend sagt er, sei das die schlimmste Zeit in seinem Leben gewesen. Heute steht Koch sprichwörtlich mit beiden Beinen im Leben. Er weiss, was er kann – und was er nicht kann. «Ich habe eine dickere Haut gekriegt», sagt Koch. «Und die Leute um mich herum sind älter und verständnisvoller geworden.»
Seit Geburt leidet Jan Koch am so genannten Marfan-Syndrom. Das Marfan-Syndrom ist eine Erkrankung des Bindegewebes. Da das Bindegewebe allen Körperteilen Halt gibt, spielt es eine wichtige Rolle beim Wachstum. Und da Bindegewebe überall im Körper vorkommt, können die Merkmale des Marfan-Syndroms in vielen verschiedenen Bereichen des Körpers auftreten. So u.a. im Herzen, in den Blutgefässen, in den Knochen, in den Gelenken und den Augen. Manchmal sind auch Haut und Lunge betroffen.
Die Krankheit ist auf einen Genfehler zurückzuführen. Lange Zeit hiess es bei Koch laut klinischem Befund, es bestehe der Verdacht auf… Vor noch nicht allzu langer Zeit sind bei Koch mittels eines Gen-Tests die letzten Zweifel ausgeräumt worden: Jan ist Erstträger in der Familie. Bei seinen beiden älteren Brüdern sind keine Unregelmässigkeiten festgestellt worden.
Wie die meisten Marfan-Patienten ist auch Koch sehr gross und sehr schlank. «Das ist ein besonderes Merkmal dieser Krankheit», sagt sein Vater Oskar. «Es gab eine Zeit, da haben die Ärzte prognostiziert, dass Jan 2,05 Meter werden soll. Bei 1,95 Meter hat er dann aber aufgehört zu wachsen. Andernfalls hätte man das Wachstum mit einer Hormonbehandlung künstlich einbremsen müssen.»
Eines der grössten Probleme von Jan waren und sind seine Füsse. «Ich hatte einen Knick-Senk-Plattfuss», sagt Koch. Oder anders formuliert: Füsse, die ihn nicht sehr weit tragen können. Noch heute sagt er, dass es ihm schwerfalle, barfuss zu gehen. Auch Laufen sei nicht seine Stärke. Und Springen gehe dermassen auf die Gelenke, dass er es lieber sein lässt. Seit er beide Füsse operiert hat, hat er grosse Fortschritte erzielt. Dem orthopädischen Ärzteteam in der Schulthess-Klinik in Zürich hat er viel zu verdanken. Koch trägt heute Spezialschuhe, die ihm das Leben erleichtern. Auch beim Kartfahren.
Zu diesem Hobby hat er schon in jungen Jahren gefunden. Von Anfang an hat ihn die Technik begeistert. Als Kind hat er Formel-1-Rennen am Fernsehen geschaut. Wenn sich die Gelegenheit ergab, setzte er sich für ein paar Runden in einen Mietkart. Als er eines Tages meinte, er wolle nun «richtig» Kartfahren, stiess er nicht gerade auf Begeisterung – weder Zuhause, noch bei seinen Ärzten. Man riet ihm gar davon ab, weil die Gefahr von Verletzungen für ihn zu gross sei. Doch Jan liess nicht locker, und das spürte auch sein Vater. «Er hat für den Kartsport eine solche Begeisterung aufgebracht, dass ich irgendwann nachgegeben habe», sagt Oskar Koch.
Leicht ist ihm diese Entscheidung nicht gefallen. «Als Eltern von eines ‹gewöhnlichen› Kinds, das gerne Kartfahren möchte, stellt man sich irgendwann die Frage, ob man es denn auch verantworten kann, wenn etwas Schlimmes passiert. In unserem Fall kam Jans Krankheit dazu. Ich habe wirklich lange mit mir gerungen und mich gefragt: Kann ich das verantworten?» Die Antwort lautete irgendwann – ja. Nachdem er ein paar Rennen live vor Ort miterlebt hatte, absolvierte Koch 2017 den ASS-Lizenzkurs auf der Kartbahn in Lyss. Noch am selben Tag kaufte ihm sein Vater sein erstes Kart. Damit bestritt Koch seine ersten Rennen im Rahmen der Kappelen Trophy. Immer an seiner Seite: der Vater, als fleissiger Mechaniker. «Ich kann mich noch gut an unser erstes Rennen erinnern», lacht Oskar. «Wir hatten nur einen Werkzeugkasten dabei, sonst nichts.» Auch Jan muss lachen, wenn er an dieses erste Mal zurückdenkt. «Wir waren absolut grün hinter den Ohren. Wir hatten weder Ersatzreifen dabei, noch wussten wir, wie man Reifen wechselt…»
Das Duo lernte dazu. Nicht nur auf technischer, auch auf der emotionalen Seite. «Ich war nie der Vater, der am Streckenrand stand und seinen Sohn wild gestikulierend zu Höchstleistungen trieb. Das habe ich nie gemacht – und werde ich nie machen. Im Gegenteil: Ich glaube, ich habe Jan öfters eingebremst – aus Angst, er könne sich halt doch weh machen.»
Ein paar Mal hat sich Koch auch weh getan. Aber er liess sich nicht vom Weg abbringen. «Ich wollte es einfach», sagt der Junior, «und habe immer weitergemacht.» Als positiven Nebeneffekt stellte Koch fest, dass ihm das Kartfahren auch körperlich guttut. Noch ist Koch im Vergleich mit anderen eine eher schmächtige Erscheinung. Das liegt zum Teil auch an seiner Trichterbrust. Doch er hat die letzten Jahre Muskelmasse aufgebaut. «Es gibt Leute, die haben mich ein paar Jahre nicht mehr gesehen und staunen, wie ich mich verändert habe. Früher war ich eine ‹Bohnenstange›, heute stimmen die Proportionen schon viel mehr.»
Trotz all den Fortschritten muss Koch jedes Jahr ärztliche Tests machen. Einmal in der Woche geht er zum Physiotherapeuten. «Meine Wirbelsäule ist aufgrund der Krankheit krumm gewachsen. Wir versuchen deshalb, auch diesen Bereich zu stärken.» Mit der Nackenmuskulatur bekundet Koch beim Kartfahren wenig Mühe. Vielmehr ist es der Schulterbereich, der ihm manchmal zu schaffen macht. Doch Koch hat nicht nur im Alltag gelernt, gewisse Tätigkeiten anders auszuüben als andere. «In meiner ersten Lehre zum Automechaniker war es für mich eine grosse körperliche Herausforderung, Reifen zu wechseln, bis ich eine Technik herausfand, die es mir leichter machte.»
Auch im Kart hat er teilweise Techniken entwickelt, die ihm die Arbeit am Lenkrad erleichtern. Allein schon durch seine Grösse hat Koch massive Nachteile. Wo andere mit Gewichten spielen und den Schwerpunkt perfekt anpassen, muss Koch Kompromisse eingehen. «Obwohl ich den Sitz und die Pedale ganz nach hinten respektive ganz nach vorne gestellt habe, kann ich meine Beine nicht durchstrecken. Das führt dazu, dass ich überall anstosse. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran.»
Seine sportlichen Ziele hat Koch in den letzten Jahren nach unten korrigiert. Eine Zeit lang hat er von der grossen Rennfahrerkarriere geträumt, «doch die werde ich nicht machen», sagt Koch heute. «Meine Ziele sind realistischer geworden. Aber ich möchte auch ein Beispiel für andere sein. Es ist wichtig, anderen Mut zu machen. Und man weiss manchmal gar nicht, was man alles erreichen kann. Man muss es einfach wollen.»
Drei Mal ist Koch in seiner Karriere in der Rotax-Meisterschaft schon auf dem Podium gestanden. An sein erstes Podium erinnert er sich noch sehr genau. «Das war 2020 in Wohlen. Meine damalige Freundin hatte Schluss mit mir gemacht und im ersten Rennen wurde ich abgeschossen. Aber irgendwie schaffte ich es, den Reset-Knopf zu drücken. Im zweiten Lauf war ich schon Siebter, im Finale Dritter.» Weil er aufgrund seiner Grösse mit etwas stumpfen Waffen kämpft, ist sich Koch gewohnt, jede Möglichkeit, die sich bietet, zu nutzen. Seine stärksten Leistungen ruft er deshalb oft bei Mischverhältnissen ab. Oder wie 2023, als der Asphalt in Wohlen aufbrach und er flugs seine Linienwahl änderte.
Beim Heimrennen in Wohlen (im Rahmen der SM) möchte Koch auch dieses Jahr wieder am Start sein. Denn die Saison 2024 hat aufgrund seiner Ausbildung etwas gelitten. Koch hat erst kürzlich eine zweite, dreijährige Lehre erfolgreich absolviert – als Strassentransportfachmann. Als solcher fährt er mit 40 Tonnen schweren Lastwagen herum. Wenn das die Schüler, die ihn damals gemobbt haben, wüssten…