Wie schon bei den letzten Ausgaben veröffentlichen wir an dieser Stelle den einen oder anderen Artikel aus dem vierteljährlich erscheinenden Magazin von ASS. Teil 1: Was macht eigentlich Joël Camathias?
Es gibt kleine Rennfahrer. Und es gibt grosse Rennfahrer. Und dann gibt es da noch Joël Camathias. Wenn der 1,94 Meter lange Tessiner vor einem steht, glaubt man zuletzt daran, dass er sich in ein Cockpit eines Rennwagens falten kann.
Doch der inzwischen 40-jährige Camathias ist seit mehr als 25 Jahren im Rennbusiness. Noch heute zählt er zu den schnellsten GT-Piloten der Schweiz. Auch wenn er von sich sagt: «Ich fahre nur noch zum Spass. Und mit den Jungen kann ich heute längst nicht mehr mithalten.»
Mit 40 steht Camathias heute voll im Geschäftsleben. Gemeinsam mit seiner Schwester führt er das Finanz- und Versicherungsunternehmen seines 2017 mit 69 Jahren verstorbenen Vaters Romeo Camathias.
Obwohl in der Familie Camathias Motorsport allgegenwärtig war, ist es nicht Papa Romeo, der einst eine Superlizenz besass, der Joël Mitte der Neunzigerjahre zum Rennfahrer macht. Und auch Grossonkel Florian Camathias, ein begnadeter Gespannfahrer, der 1965 im englischen Brands Hatch ums Leben kam, ist nicht der Grund, weshalb Camathias jr. sich hinters Lenkrad klemmt. Ein Freund hat ihn einst zum Kartfahren nach Locarno mitgenommen. «Von diesem Moment an wollte ich auch Rennfahrer werden», sagt Camathias. «Doch mein Vater war dagegen. Erst als ich mich bereit erklärte, mir das erste Kart selber zu kaufen, willigte er ein. Die Quittung meines ersten gekauften Karts habe ich bis heute aufgehoben.»
Nach vier Jahren im Kart schnuppert Camathias 1997 in der italienischen Formel Campus erste Automobilrennluft. 1999/2000 fährt er in der Formel Euro Open Nissan, die Vorläuferserie der Worldseries by Renault. Einer seiner Konkurrenten auf der Strecke ist Fernando Alonso. «Den habe ich beim Rennen in Barcelona hinter mir gelassen», erinnert sich Camathias und grinst dabei.
2001 steigt Camathias in die FIA International Formel 3000 auf. Der Saisonstart ist verheissungsvoll. Joël wird in Brasilien Fünfter. Zu mehr reicht es jedoch nicht. Nach einem Abstecher in die Euro 3000 ist er 2003 international gesehen auf dem Höhepunkt. Camathias vertritt die Schweiz in der IndyCar-Serie. Wieder beginnt er stark. Doch die Mittel des kleinen Dale-Coyne-Rennstalls, für den heute Romain Grosjean fährt, sind bescheiden. Camathias wechselt in den GT-Sport und gewinnt dort unter anderem mit Richard Lietz (2007) sowie Marcel Fässler (2009) die GT Open. Der Sieg mit Marcel ist sein schönstes Rennsporterlebnis. «Ich weiss noch, wie ich meinen Vater damals aus Portimão angerufen habe», sagt Joël. «Wir haben am Telefon nur geweint…»
Heute ist Joël Vater zweier Kinder: Ella Sky (1/2-jährig) und Romeo León (1 ½). Ob sie eines Tages auch im Motorsport Fuss fassen? «Wenn die Kinder mit dem Wunsch kommen, Rennfahrer zu werden, rate ich ihnen, eine andere Sportart auszuüben. Der Motorsport ist zwar eine gute Schule fürs Leben, aber du erlebst viele Enttäuschungen.»